Wenn die Felder abgeerntet sind und die Früchte in den Speichern liegen, ist die Zeit des Dankens gekommen. Erntedank erinnert uns daran, dass wir als Menschen wirken können – mit unserer Arbeit, unserer Mühe, unserer Kraft. Wir pflügen, säen, pflegen, ernten. Und doch wissen wir: Ob die Saat aufgeht, ob Regen und Sonne im rechten Maß kommen, ob eine Pflanze Frucht trägt – das liegt nicht allein in unserer Hand. Das Leben bleibt Gabe.
Genau dieser Spannung – zwischen Wirkkraft und Begrenzung – haben auch die alten Kulturen Bilder gegeben.
Dike und Nemesis – das Maß der Gerechtigkeit
In der griechischen Mythologie verkörperte die Göttin Dike die Gerechtigkeit. Oft wird sie mit einer Waage dargestellt, Symbol für Ausgleich und rechtes Maß. Sie prüfte, ob das Handeln der Menschen im Gleichgewicht war – nicht zu wenig, nicht zu viel, sondern im Einklang mit der göttlichen Ordnung.
Eng verwandt mit ihr ist Nemesis, die Göttin der gerechten Zuteilung. Ihr Name bedeutet so viel wie „das Zuteilende“ oder „das, was jedem sein Teil gibt“. Sie war es, die einschritt, wenn Menschen in Hybris verfielen – in Überheblichkeit, Maßlosigkeit, das Gefühl, mehr nehmen oder bestimmen zu können, als ihnen zukommt. Nemesis sorgte dafür, dass Gleichgewicht und Ordnung wiederhergestellt wurden.
Dieses Bild ist eindringlich: Wir Menschen dürfen wirken, gestalten, schöpfen. Doch wenn wir das rechte Maß überschreiten und glauben, wir könnten die Schöpfung nach Belieben steuern und ausbeuten, geraten wir ins Ungleichgewicht – mit uns selbst und mit der Welt. Erntedank ruft uns zurück in die Haltung des Maßes: dankbar zu sein für das, was uns gegeben ist, und zu wissen, dass es Grenzen gibt, die wir achten müssen.
Die Nornen am Brunnen
Im Norden erzählte man von den Nornen – drei weiblichen Wesen, die am Fuß des Weltenbaumes Yggdrasil sitzen. Aus dem Wasser des Schicksalsbrunnens schöpfen sie und weben daraus die Lebensfäden der Menschen. Sie messen Länge und Gestalt jedes Fadens und halten ihn im großen Gewebe des Lebens.
Das Bild ist klar: Jeder Mensch darf seinen Faden im Laufe des Lebens mitgestalten – wir wirken, knüpfen, verflechten. Aber wir weben nicht allein. Der Faden ist uns anvertraut, nicht gegeben zu besitzen. Und er hat ein Maß, das wir nicht selbst bestimmen.
Auch das Erntejahr ist ein solcher Faden: Wir tun unseren Teil – und doch ist die Fülle nie nur unser Werk. Sie hängt an Regen und Sonne, an der geheimnisvollen Lebenskraft, die sich unserem Zugriff entzieht.
Kreislauf des Gebens
Darum war es seit alten Zeiten Brauch, einen Teil der Ernte zurückzugeben. Das erste Korn, das erste Brot, die ersten Früchte – sie wurden geopfert, dargebracht an Erde, Gottheiten, Ahnen. Nicht als Verlust, sondern als Gegengabe: Dank für das, was man empfangen hatte, und Bitte um Fruchtbarkeit für das kommende Jahr.
Erntedank ist also nicht nur ein Fest des Habens, sondern auch ein Fest des Zurückgebens. Es macht uns bewusst: Wir leben nicht vom Nehmen allein, sondern vom ständigen Kreislauf von Gabe und Gegengabe.
Maß und Gabe
So erzählen uns die alten Bilder – Dike und Nemesis einerseits, die Nornen andererseits – von dem, was Erntedank im Kern bedeutet: Maß und Gabe.
Das Maß erinnert uns an unsere Grenzen: dass wir eingebunden sind in Ordnungen, die größer sind als wir. Die Gabe erinnert uns daran, dass Nehmen und Geben zusammengehören: dass wir empfangen dürfen – für uns selbst und um weiterzugeben – und so unseren Teil zum großen Lebenslauf beitragen.
Und so wie wir von der Erde ernten, so geben wir am Ende auch unser eigenes Leben an etwas Größeres zurück – mit all den Erfahrungen und Früchten, die es getragen hat. Wir sind Teil eines großen Kreislaufs, der sich nicht in unserem Besitz befindet, sondern der uns trägt.
Erntedank erinnert uns an dieses Bewusstsein. Es lädt uns ein, die Balance, das Maß zu ehren: zwischen Tun und Empfangen, zwischen Wirken und Hingabe, zwischen Geben und Nehmen. In dieser Balance liegt das Gleichgewicht, das das Leben trägt – und das wir mit Dank und Freude feiern dürfen.
Willkommen im Kreis.
Wenn Dich diese Impulse ansprechen und Du den Ruf verspürst, findest Du
hier weitere Informationen zu meinen Veranstaltungen im Jahreskreis.
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