Kessel, Spindel und der Mythos der Urmutter
Wenn die dunkle Jahreszeit die Welt still werden lässt und das Leben sich in die Tiefe zurückzieht, öffnet sich der Schoß des Winters: ein Raum, den unsere indigen-europäischen Vorfahren als heilig empfanden. Es ist der Raum unter der Oberfläche – dort, wo die Kräfte ruhen, wo das Sichtbare schwindet und das Unsichtbare zu wirken beginnt.
In diesem tiefen, verborgenen Bereich verorteten sie die große Urmutter: jene gestaltwandelnde, gebärende, weibliche Kraft, die viele Namen trägt, deren Wesen jedoch über Jahrtausende erstaunlich konstant bleibt.
In Mitteleuropa hat sich dieses alte Bild am klarsten in der Gestalt der Holle erhalten – einer Erdmutter, Winterfrau und Weltenordnerin, die zugleich Leben schenkt, es wandelt und erneuert. Ihre Spuren finden sich in Märchen, Sagen, Ortsnamen, Volksbräuchen und in den Forschungen u. a. von Marija Gimbutas, Erika Timm und Heide Göttner-Abendroth.
Drei Symbole der mythologischen Urmutter führen uns nun in den heiligen Schoß des Winters:
Kessel, Spindel und Rad.
Der Kessel – Schoßraum & nährende Wandlung
In vielen Landschaftsformen sahen unsere Vorfahren den Schoß der Erdmutter: in Erdmulden, Höhlen, Senken und Quellenkesseln. Archäologie und Matriarchatsforschung zeigen, dass solche Orte seit der Jungsteinzeit als heilig galten – als „uterine spaces“, als Räume der Geborgenheit, des Abtauchens und des Wiederbeginns.
Der Kessel ist die kultische Nachbildung dieser Orte: ein tragbarer Erdenschoß. In den Mythen der Urmutter – sei es Holle, Brigid, Ceridwen oder die alte Donar-Mutter – wird der Kessel zum Gefäß der Wandlung. Darin wird das Vergangene aufgenommen, genährt, innerlich verwandelt und als neue Kraft wieder hervorgebracht.
Das nährende Motiv hat sich in Winterbräuchen bis heute erhalten: in den nährenden Festbroten, in Honig- und Lebkuchen, in den Speisen der „Mutter-Nacht“ – alles Sinnbilder für das Nähren im Verborgenen.
Der Kessel erinnert uns daran:
Im Winter wird das Leben im Schoßraum der Erde genährt, gewandelt und auf den kommenden Zyklus vorbereitet. Er ist der Ort, an dem die Urmutter das Kommende hütet, bis es bereit ist, erneut ans Licht zu treten.
Die Spindel – Achse & Schicksalsfaden
Die Spindel war in der alten europäischen Welt nicht nur ein Werkzeug – sie war ein Symbol. Ein Symbol für Ordnung innerhalb des Werdens: Aus ungeordneten Fasern wird ein Faden. Aus Potential wird Gestalt.
Die Spindel war Sinnbild für die Achse zwischen den Welten, an der der Lebensfaden entsteht. In Mythen weben Holle, Percht und andere Schicksalsfrauen im Winter an dieser Achse die Fäden der kommenden Zeit – sie spinnen aus der Tiefe den neuen Faden in die Welt hinein.
Erzählungen aus verschiedenen Regionen berichten, dass es Zeiten gibt – besonders in den heiligen Winternächten (Mutternächte/Rauhnächte) –, in denen die Menschen ihre Spindeln ruhen lassen sollten. Denn in diesen Nächten spinnt die Göttin allein, und die großen Fäden des Lebens entstehen dort, wo Menschenhand nicht eingreifen soll.
Diese Vorstellung trägt eine tiefe Haltung in sich:
Es gibt Phasen im Lebensrad, in denen wir von unserem Tun und Wirken ablassen dürfen. In denen wir uns nicht anstrengen müssen, sondern uns den größeren Wirkkräften anvertrauen, die in der Tiefe für uns wirken.
Die Spindel erinnert uns daran, dass ein Teil unseres Lebensfadens im verborgenen Raum des Winters gesponnen wird – dort, wo die Ordnung des Kommenden ihren Anfang nimmt.
Das Rad – Kreis der Zeit & Erneuerung
Seit frühen Zeiten sahen die Menschen im Sonnenlauf ein großes Weltenrad:
Aufstieg – Entfaltung – Abstieg – Einfaltung – und wieder Beginn. Ein Rhythmus, der Pflanzen, Tiere, Menschen und das Licht selbst trägt.
Zur Wintersonnenwende erreicht dieses Rad seinen tiefsten Punkt. Dann, im Moment größter Dunkelheit, wendet es sich – das Licht kehrt zurück und der Kreis beginnt neu. Darum wurde das Rad vielerorts zum Winterzeichen, zum Zeichen der Erneuerung. Auch das Wort „Jul“ (nordisch) verweist auf das Rad, den Kreis, den zyklischen Neubeginn.
Das Rad ruft uns ein uraltes Gesetz in Erinnerung:
Alles Leben bewegt sich zyklisch. Und in jeder Tiefe liegt der Keim des neuen Aufstiegs.
Der Winter als mythischer Tiefenraum
Kessel, Spindel und Rad sind keine zufälligen Symbole – sie erwachsen aus der Landschaft, aus Naturbeobachtung und aus einer alten Weltsicht, die den Winter nicht als Stillstand, sondern als heiligen Wandlungsraum begriff.
• Der Kessel: nährender Schoß, der das Leben aufnimmt und verwandelt.
• Die Spindel: Achse, an der der neue Lebensfaden gesponnen wird.
• Das Rad: der große Zyklus, der sich in der tiefsten Winternacht erneuert.
Gemeinsam erzählen sie vom Vertrauen in jene Kraft, die unter der Oberfläche wirkt. Von einem Werden, das im Verborgenen beginnt. Von der Urmutter, die hütet, ordnet, nährt – und uns durch den tiefsten Punkt des Jahres trägt.
Willkommen im Kreis.
Wenn du spürst, dass der Winterraum dich ruft und du seine Kraft für deinen eigenen Weg integrieren möchtest, freue ich mich, dich in einem meiner Naturrituale begrüßen zu dürfen. Aktuelle Termine findest du hier auf meiner Website.
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