Wer ist Nikolaus – und wenn ja, wie viele?

Über alte Winterkräfte und Heiligenlegenden

Für die Winterzeit – und besonders für Mittwinter – haben sich in Mitteleuropa erstaunlich viele Bräuche und mythologische Bildwelten erhalten. Doch wenn wir uns diese heutigen Winterbräuche genauer ansehen, wird klar: 
Die ursprünglichen Wintergestalten, die einst Leben, Tod, Wandel und Wiederkehr in einer Figur vereinigten, wurden im Laufe der Christianisierung in helle und dunkle Kräfte gespalten und die dunklen Aspekte schließlich dämonisiert.

Die zentrale winterliche Gestalt im Alpenraum war – und ist es in den dortigen Umzügen bis heute – die Percht (oder Berchta). Sie entspricht im süddeutschen und österreichischen Raum jener mächtigen Winterfrau, die im mitteldeutschen Raum als Holle bekannt war. Beide sind regionale Varianten derselben alten europäischen Wintergöttin. Diese Gestalt war eng mit der Naturbeobachtung des Winters verbunden: dem Rückzug der Lebenskraft, dem Wandlungsprozess in der dunklen Tiefe und der Wiederkehr des Lichtes zur Wintersonnenwende.

Percht – wie Holle – war die Göttin des Winters und der Nacht. Sie hütete Kinder und Seelen, bewahrte die Verstorbenen in einem Zwischenreich, wachte über Tiere und Lebenskräfte und galt zugleich als Hüterin von Fruchtbarkeit und Wiedergeburt. Als Segensspenderin zog sie in den Rauhnächten durch das Land. Aus vielen Regionen ist der alte Brauch des „Berchtentischs“ überliefert: Ein Tisch mit Speisen und Getränken, der für die Göttin während der Zwölften vor die Häuser gestellt wurde. Die Percht nahm die Gaben symbolisch an und schenkte den Menschen im Gegenzug Segen für das kommende Jahr. Ihre Gestalt wandelte sich mit dem Jahreslauf:
Zur tiefsten Nacht der Wintersonnenwende vollzieht sie die große Wandlung – von der schwarzen Alten, die das Vergangene in sich aufnimmt, zur weißen Frau, die das neue Licht bringt. Dieses Mysterium der Wandlung aus der Tiefe gehört zu den ältesten mythologischen Strukturen Europas.

Knecht Ruprecht – Begleiter der Holle

Traditionell erschien die Percht nicht allein. Neben ihr findet sich in den Mythen oft ein männlicher Begleiter, ein Heros, der die sterbende Vegetation im Winter verkörpert – und wie ebendiese erscheint er meist dürr, schwarz, in Stroh gehüllt. Er ist die „eigene Schöpfung“ der Göttin selbst, ihr dienender Gegenpart, der mit ihr gemeinsam den neuen Lebenszyklus hervorbringt.

Mit der Ausbreitung des Christentums erfuhren sowohl Percht als auch ihr erwähnter Begleiter, der „Knecht Ruprecht“, eine zunehmende Dämonisierung. Aus der Wintergöttin selbst wurde eine unheimliche, gefürchtete Hexengestalt, aus dem dienenden Heros wurde ein Teufelswesen, das ihr huldigte. Es ist durchaus belegbar, dass in diesem Zuge die christliche Heiligengestalt des Nikolaus die alpenländische Percht, die mittel- und norddeutsche Holle bzw. die „römische“ Diana verdrängt bzw. überlagert hat. Die mit der Römerzeit eingewanderte Diana wurde im Volksglauben Mitteleuropas zur Anführerin nächtlicher Frauenfahrten umgeformt – einer Gestalt, die den Winterfrauen Holle und Percht bald eng verwandt war.

Wer war Nikolaus von Myra?

Nikolaus von Myra war ein frühchristlicher Bischof im 4. Jahrhundert in der Küstenstadt Myra (heutige Türkei). Nach seinem Tod bildete sich um seine Person ein großer Legendenkreis. Auf zwei dieser Legenden möchte ich nachfolgend eingehen.

Eine Legende besagt: In Myra tötete ein Gastwirt drei Schüler, zerstückelte deren Leichen und pökelte deren Teile in einem Salzfass ein. Nikolaus erfuhr von der Tat und soll durch seine Fürbitte bei Gott die Schüler wieder zum Leben erweckt haben. Hier finden wir bereits einen Hinweis auf den durch die Legendenbildung überlagerten Dianakult. Denn Diana war es, die – wie die anderen Wintergöttinnen auch – ihren Heros (die Vegetation) zugrunde gehen ließ bzw. „zerstückelte“. Er ruhte dann in ihrem tiefen winterlichen Schoß („dem Pökelfass“), bis er schließlich zur Wintersonnenwende als Frühlingsheros von ihr neu zum Leben erweckt wurde.

Eine weitere Nikolaus-Legende erzählt von drei Schwestern, die der Bischof vor der Prostitution bewahrt haben soll, indem er ihnen in drei aufeinanderfolgenden Nächten je einen Goldklumpen durchs Fenster warf. Damit sollten sie ihre Mitgift für eine standesgemäße Hochzeit aufbringen können. Versetzen wir uns in die vorchristliche Zeit: Hier waren Liebe und Partnerschaft noch nicht in Form der späteren Ehe fixiert, sondern beweglicher und freier. Gleichzeitig wurden Partnerschaft und körperliche Liebe von Priesterinnen der Göttin als heilige Verbindung verstanden und zelebriert. Damit erhält diese Legende des Nikolaus bereits eine andere Färbung. Denn der alte Kult der Göttinnenverehrung sollte den Menschen in damaligen Zeiten christlicher Überlagerung mit allen denkbaren Mitteln ausgetrieben und gesellschaftlich ausgerottet werden. Selbst eine weitere Legende des Nikolaus von Myra erzählt davon („Bekämpfung der Diana“).

Weiterhin gibt es beispielsweise in der Nikolaus-Kapelle in Klerant/Südtirol interessante Wandgemälde zu begutachten, die eindringlich die Vertreibung des „bösen Geistes“ Diana durch den heiligen Nikolaus darstellen. Während auf einer Abbildung wörtlich zu lesen ist „Diana, du böser Geist, fleuch aus diesem Haus …“, zeigt eine zweite Darstellung den heiligen Nikolaus, wie er gerade einem jungen Mann den „Diana-Teufel“ mit seinem Bischofsstab aus dem Leib zu treiben versucht.
Vor diesem Hintergrund dürfen wir uns fragen, vor welcher „Prostitution“ der Nikolaus die drei Schwestern in der Legende wohl bewahrt haben möge, um ihnen die christliche Ehe zu ermöglichen? Der Verdacht liegt berechtigterweise sehr nahe, dass er sie schlicht dem Diana-Kult entriss, um sie in eine Heirat und ein neues, christlich dominiertes gesellschaftliches Zusammenleben zu zwingen.

Die Überlagerung der Wintergöttin durch den Nikolaus

Als das Christentum sich ausbreitete, stieß es im Winterbrauchtum auf eine Göttinnengestalt, die sich kaum bei den Menschen verdrängen ließ. Die Winterfrau Percht/Holle/Diana war zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Also griff die Kirche zu einem wiederkehrenden Mittel: Wo Verbote allein nicht wirkten, setzte man schlicht eine christliche Heiligenfigur an die Stelle der alten Gottheit.

Der „Nikolaus“, wie er heute erscheint und jährlich am 6. Dezember durch Häuser zieht, entspricht nicht der Gestalt des historischen Bischofs. Er ist vielmehr eine synkretische Brauchtumsfigur, in der die historische Person des Nikolaus von Myra mit christlicher Moralpädagogik, uralten Wintergestalten und alten Volksbräuchen verschmolz. So übernahm der heute bekannte Nikolaus in seiner Ausgestaltung jene Rollen und Merkmale, die ursprünglich der alten Wintergöttin gehörten.

Diana/Percht fliegt laut Überlieferung in Winternächten mit einem Hirsch oder Schimmel durch die Lüfte. Und sie beschenkt die Menschen mit ihren Wintergaben wie Nüssen, Äpfeln, Birnen und Lebkuchen. Ebenso tut es heutzutage gemäß Mythos und Brauchtum die Gestalt des Nikolaus. Außerdem erscheint der Nikolaus vielerorts mit einem Begleiter, dem Knecht Ruprecht – den wir auch bereits als gleichnamiges winterliches Begleitwesen der Percht kennen. Und auch die drei heiligen Farben der Urmutter – Weiß, Rot und Schwarz –, in denen Diana/Percht im Winter vielerorts erschien, kennen wir heutzutage von der Kleidung des Nikolaus (wobei die Farbe Schwarz als „Böses“ symbolisch abgespalten und daher meist auf den furchterregend inszenierten Knecht Ruprecht verlagert wurde).

Moralische Umdeutung und dualistische Spaltung

Mit der Christianisierung vollzog sich eine radikale Umdeutung. Die Wintergöttin war ursprünglich zyklisch, nicht moralisch:
Sie segnete, weil der Mensch im Rhythmus des Lebens stand, und tadelte, wenn der natürliche Verlauf gestört war. Dabei ging es um Harmonie mit dem Jahreslauf – nicht um Gehorsam und Züchtigung. Nur wer im Einklang mit der natürlichen Ordnung lebte, konnte den Segen der Göttin empfangen, da man andernfalls schlicht per Naturgesetz „aus der Ordnung herausfiel“.

Nun aber wurde daraus ein Werkzeug kirchlicher Erziehung im Rahmen einer dualistischen Gut/Böse-Spaltung:
Die guten Kinder bekommen Gaben, die schlechten werden bestraft. Die einstige Lebensrute, ein Segenszweig, verwandelte sich dabei in eine gewaltsame Zuchtrute, ein Instrument der Angst. Und der einst dienende Winterheros Knecht Ruprecht – der Helfer der Göttin – wurde zum dämonisierten Krampus, der sämtliche bedrohlichen, furchteinflößenden Aspekte tragen musste, damit der heilige Gabenbringer daneben möglichst makellos erscheinen konnte.

Damit wurde der alteuropäische Jahreszeitenmythos aus seiner naturverbundenen Grundlage herausgelöst und in ein Moralsystem gepresst. Zwar bleibt der rote Faden des alten Brauches deutlich erkennbar, doch sein Sinn ist eindeutig verdreht.

Und doch bleibt damit im Winterbrauchtum rund um Nikolaus stets eine alte Stimme hörbar – zeugend von Wandel, Tiefe und Wiederkehr. Vielleicht spricht sie sich nirgends mehr so leise und zugleich so deutlich aus wie in diesen alten Zeilen:

„Es geht eine dunkle Wolk‘ herein,
Ich seh‘ den Stern der Nacht.
Die Alte fährt im Winterwind,
die neue Sonne wacht.
Und wer im rechten Wandel geht,
dem bringt sie Segen sacht.“

(Volkslied aus Des Knaben Wunderhorn, Arnim/Brentano, 1808)

Lektüre

Wer dieses Thema weiter vertiefen möchte, dem sei das Buch „Macht Geschichte Sinn. Was uns mitteleuropäische Mythen, Sagen und Bräuche über unsere Zukunft erzählen“  von U. Seghezzi sehr ans Herz gelegt. Viele der hier dargestellten Zusammenhänge – und zahlreiche weitere, höchst spannende Aspekte – finden sich dort vertieft und wissenschaftlich fundiert erläutert.

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Über die Autorin

Ich bin Katja – ich begleite Menschen, die sich vom Ruf der Natur leiten lassen und in Wandlungsphasen Halt und Orientierung suchen. Ich arbeite mit dem Lebensrad nach Seghezzi, einer naturzyklischen Landkarte, und unterstütze Dich gerne dabei, Dich tief mit den natürlichen Zyklen und Dir selbst zu verbinden.

Ich biete Jahreskreis-Naturrituale, individuelle Naturrituale und naturmystische Seminare an, die Raum für persönliche Entwicklung und das Erleben von Verbundenheit schaffen.

In meinem Blog teile ich Impulse zu Natur, Lebenszyklen und spiritueller Ausrichtung.

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